Nach dem Zerfall des Großbulgarischen Reiches von Khan Kubrat brach sein zweitältester Sohn, Khan Kotrag, mit einem der bulgarischen Stämme nach Norden auf und ließ sich am Mittellauf der Wolga nieder. Dort wurde um das Jahr 660 der Staat Wolgabulgarien gegründet. Die Spuren, die dieses Reich hinterlassen hat, werden im Bulgarischen Geschichts- und Architektur-Reservat und Museum in Tatarstan aufbewahrt und erforscht.
„Man geht davon aus, dass Kotrag (oder Kodrag) eine legendäre Gestalt ist. Er wird in byzantinischen Chroniken nur indirekt erwähnt; eindeutige schriftliche Zeugnisse, die seine Existenz belegen, wurden bisher nicht entdeckt“, erzählte uns der stellvertretende Direktor des Museums Andrei Fashutdinov. Er machte uns ferner auf die überaus günstige Lage von Wolgabulgarien aufmerksam, das über ausgezeichnete Kommunikationsmöglichkeiten über die Flüsse und Straßen verfügte, an denen es lag.
Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass schnell bedeutende wirtschaftliche, politische und Kulturzentren entstanden und das Reich sich in ein Tor zwischen Orient und Okzident verwandelte. Im Unterschied jedoch zu Donaubulgarien, das im Jahre 864 offiziell das Christentum annahm, wurde Wolgabulgarien unter Khan Almusch im Jahre 922 ein islamischer Staat.
„Ein Teil der Bevölkerung blieb jedoch weiterhin den alten heidnischen Traditionen verhaftet; unter der Bevölkerung waren ferner Christen. Die Wahl fiel auf die islamische Religion, vor allem weil Wolgabulgarien aktive wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu den bereits islamisierten Ländern Mittelasiens aufrechterhielt. Man geht davon aus, dass die ersten Bulgaren, die zum Islam übergegangen sind, Händler und Reisende gewesen sind. Danach hat sich der Islam unter den verschiedenen Stämmen ausgebreitet. Das hat natürlich auch seine Auswirkungen auf die Schriftkultur gehabt“, betont Andrei Fashutdinov und präzisiert:
„Vor dem Übergang zum Islam war eine Runen-Schrift in Gebrauch. Im Museum werden einige Gegenstände mit solchen Runen aufbewahrt, bei denen es sich vor allem um Markierungen handelt. Bis zum 12. und 13. Jahrhundert wurden solche Zeichen von den Handwerkszünften verwenden – beispielsweise von den Töpfern, die ihre Waren „signierten“; es gab aber auch spezielle Sippen-Zeichen – jede Sippe hatte ihr Erkennungszeichen – eine Art Wappen also. Nach der Annahme des Islam diente als Grundlage die arabische Schrift, die bis in die 20er Jahren des 20. Jahrhunderts genutzt wurde, als die Bolschewiken an die Macht kamen.“
Die Wolgabulgaren waren übrigens die einzigen, die sich am Anfang erfolgreich den Mongolen widersetzen konnten. Andrei Fashutdinov erinnert an die sogenannte „Hammel-Schlacht“ aus dem Jahre 1223:
„Diese Schlacht zwischen den Heeren der Bulgaren und der Mongolen fand in der Region von Samarskaya Luka an der Wolga statt. Die Bulgaren hatten von dem geplanten Überfall der Mongolen erfahren und täuschten den Feind mittels eines Rückzugmanövers, das die Mongolen in eine eigens vorbereitete Falle lockte. Das mongolische Heer wurde dabei vernichtend geschlagen; viele ergriffen die Flucht, gerieten aber auch in Gefangenschaft. Die Bulgaren tauschten die Gefangenen gegen Hammel aus, was bei den Mongolen als große Schande galt. So ist diese Schlacht als die „Hammel-Schlacht“ in die Geschichte eingegangen.“
Wolgabulgarien erlebte im 12. Jahrhundert und dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts seine Blütezeit, fiel jedoch im Jahre 1236 dem Mongolensturm zum Opfer.
„Die Wolgabulgaren war sehr gute Händler“, erzählte uns der stellvertretende Direktor Bulgarischen Geschichts- und Architektur-Reservats und Museums Andrei Fashutdinov weiter. „Sie haben mit den verschiedensten Ländern bis nach China Handel getrieben. Sie waren in ganz Sibirien präsent, von wo sie wertvolle Felle, versteinerte Knochen und Stoßzähne von Mammuts in ihre Hauptstadt Bolgar mitbrachten und sie nach Europa exportierten. Sie erreichten das Weiße Meer an der Barentssee des Nordpolarmeeres, wo sie Häute und Stoßzähne von Walrossen erwarben.
Die Wolgabulgaren waren auch ausgezeichnete Handwerker, die ihre Erzeugnisse auch exportierten. Im 14. Jahrhundert stellten sie bereits Gusseisen her, das in Osteuropa erst ab dem 16. Jahrhundert Verbreitung fand. Bei archäologischen Ausgrabungen wurden Gusseisen-Werkstätten mit Schmelzöfen entdeckt, in denen Temperaturen von über 1.000°C erreicht wurden.
Die Bulgaren waren ferner als meisterhafte Goldschmiede bekannt. Ihre alten Techniken werden heute noch von den Tataren benutzt. Auch die Glasherstellung war in Wolgabulgarien gut entwickelt. Und nicht an letzter Stelle: die Bulgaren galten als ruhmreiche Krieger. Sie besaßen eine mächtige Armee, in der Reitereinheiten im Zentrum standen; die schwerbewaffneten Fußtruppen spielten lediglich eine Hilfsrolle.“
Über die Errungenschaften der Wolgabulgaren im Bereich der geistigen Kultur, der Wissenschaft und Bildung, sagte uns Andrei Fashutdinov folgendes:
„Die Schriftkultur war in Wolgabulgarien weit verbreitet, was dem Bildungssystem zuzuschreiben ist. Sowohl die Jungs, als auch die Mädchen lernten Lesen und Schreiben an den Schulen, die den Moscheen angegliedert waren. Ein Großteil der Bevölkerung war lese- und schreibkundig. Der Islam verpflichtete zur Erlernung der arabischen Sprache. Die höhergebildeten Menschen erlernten aber auch andere östliche Sprachen. In der Stadt Bolgar galt ein Mensch als gebildet, wenn er mehrere Sprachen beherrschte.“
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
Fotos: bolgar.info
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