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1. Mai heute – findet der Tag der Arbeit zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurück?

Foto: BGNES

Anfang 1886 rief die nordamerikanische Arbeiterbewegung zur Durchsetzung des Achtstundentags zum Generalstreik am 1. Mai auf – in Anlehnung an die Massendemonstration am 1. Mai 1856 in Australien, die ebenfalls den Achtstundentag forderte. Auch in einer Chicagoer Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen erklärte sich die Mehrheit der Arbeiter solidarisch und drohte der Betriebsleitung mit Streik. Auch sie waren mit dem 12-Stunden-Tag nicht zufrieden. Seitdem ist der 1. Mai ein Symbol der Arbeitersolidarität und wird heute in vielen Ländern der Welt als gesetzlicher Feiertag begangen.

In Bulgarien ist der 1. Mai seit 1890 ein gesetzlicher Feiertag. Das hatten damals die Druckereiarbeiter durchgesetzt. Die ersten großen Mai-Kundgebungen fanden jedoch erst drei Jahre später statt. In der sozialistischen Zeit Osteuropas, und darunter auch in Bulgarien, wurde der 1. Mai als „Internationaler Kampf- und Feiertag der Werktätigen für Frieden und Sozialismus“ gefeiert. Dabei wurde auf die Traditionen der internationalen Arbeiterbewegung verwiesen. Die Teilnahme an den Demonstrationen, mit dem Vorbeimarsch an der Tribüne mit führenden Parteimitgliedern und anderen Ehrengästen, war für Betriebe und Schulen im Allgemeinen eine Pflichtveranstaltung. Deshalb sind die meisten Bulgaren heute eher abgeneigt, dem 1. Mai große Aufmerksamkeit zu schenken, obwohl das eigentliche Thema dieses Tages alle betrifft – Recht auf Arbeit, annehmbare Arbeitsbedingungen, angemessene Bezahlung und Sozialschutz.

Blicken wir doch etwas in die Geschichte zurück, als 1944 die kommunistische Partei in Bulgarien die Macht ergriff. In den Jahren des Sozialismus in Bulgarien folgte der Aufbau des Arbeiter- und Bauernstaats. Das heißt neue Betriebe und neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Väterchen Staat kümmerte sich um alles – von den Arbeitsbedingungen, über die Kindergartenplätze für die Sprösslinge der Arbeiterinnen, bis hin zur medizinischen Versorgung. Die Gehälter waren niedrig, dafür hatten aber alle Arbeit. Im Leben des Arbeitervolkes gab es keinen Luxus, aber niemand war auch bettelarm. Der RWG-Markt und vor allem die riesige Sowjetunion schluckten die gesamte Produktion aus den sozialistischen Betrieben Bulgariens. Auf Qualität wurde keinen besonderen Wert gelegt. Der einstige Arbeiterkampf um Gerechtigkeit und Solidarität hatte sich in der sozialistischen Gesellschaft erübrigt – der Achtstundentag war damals schon längst erreicht, Löhne und Gehälter waren gesichert. Wozu dann also am 1. Mai demonstrieren?

Mit der Wende 1989 begann jedoch ein langwieriger Transformationsprozess in allen Lebensbereichen, so auch in der Industrie. Die früheren sozialistischen Betriebe wurden privatisiert, Arbeitgeber war plötzlich nicht mehr der Staat. Die gesamte Industrie des Landes, aufgebaut in den 45 Jahren Sozialismus und mit dem Geld aller Bulgaren, ging in die Hände neuer Eigentümer über. Der Großteil von ihnen entpuppte sich jedoch bald als hochrangige Funktionäre der kommunistischen Partei. Die ersten Konflikte zwischen Arbeitnehmern und den neuen Arbeitgebern ließen nicht lange auf sich warten. Und so schlug die Sternstunde der Gewerkschaften. Die Konjunkturlage der ersten Nachwendejahren war „günstig“ – der Achtstundentag war in der jungen Marktwirtschaft in Bulgarien schnell vergessen, an annehmbare Arbeitsbedingungen war in vielen Unternehmen nicht zu denken. Und in dieser Zeit kamen viele Bulgaren zum ersten Mal mit der Arbeitslosigkeit in Berührung – im Sozialismus waren die Jobs ja gesichert.

Die sozialen Spannungen waren der Nährboden für die großen Gewerkschaftsverbände in Bulgarien – die Konföderation der unabhängigen Gewerkschaften Bulgariens (KNSB) und den Gewerkschaftsbund „Podkrepa“. Neben den Arbeitgeberverbänden und der Regierung bilden sie heute den trilateralen Rat für konzertierte Aktion. Immer öfter diskutiert dieser Rat Probleme, die man jahrelang für endgültig überwunden hielt – Arbeitsbedingungen, Kündigungsschutz, Überstunden usw. Und plötzlich fand der 1. Mai zu seinem Ursprung zurück.

Archivbeitrag, Deutsche Fassung: Vessela Vladkova



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