Der bulgarische Staatspräsident wird demnächst das zweite Mandat zur Regierungsbildung an die zweitgrößte politische Parlamentsfraktion übergeben – der oppositionellen GERB-SDS. Der GERB-Vorsitzende Bojko Borissow erklärte jedoch, dass er das Mandat sofort zurückgeben werde. Daher konzentrieren sich die Analysten bereits auf den möglichen dritten Mandatsempfänger bzw. auf die Möglichkeit, dass das Land bis zu Neuwahlen von einer Übergangsregierung geleitet wird. Falls es dazu kommen sollte, wird es das dritte Übergangskabinett sein, dass Staatspräsident Radew in seiner bisherigen Amtszeit ernennt.
Laut Radew werden viele wichtige Fragen im Land unbeantwortet bleiben, falls sich die politische Krise weiter vertiefen sollte.
„Laut Verfassung muss ich Neuwahlen innerhalb von 2 Monaten nach gescheiterter Regierungsbildung ansetzen. Das bedeutet, dass sie im September sein müssten, was bestimmte Risiken mit sich bringt. Eine Verzögerung des Verfahrens zur Regierungsbildung könnte jedoch dazu verleiten, dass Leitungsentscheidungen nach dem Glücksspielprinzip getroffen werden. Zwischen den Parteien werden immer dickere rote Linien gezogen, was die Regierungsbildung nach möglichen vorgezogenen Wahlen zusätzlich erschweren könnte“, betonte der Staatschef und kündigte an, vor der Übergabe des dritten Mandats zur Regierungsbildung eine zweite Konsultationsrunde mit den Parlamentsparteien durchzuführen.
Wie realistisch ist die Hypothese, dass mit dem dritten Mandat eine Regierungsmehrheit geschaffen werden kann?
Nach Angaben des Journalisten Wesselin Stojnew sind die Formationen der bisherigen Viererkoalition wieder verhandlungsbereit. Die Wahrscheinlichkeit, dass das dritte Mandat an „Demokratisches Bulgarien“ geht, sei hoch, da die „Bulgarische Sozialistische Partei“ bereits zweimal hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist und keine funktionierende Führungskonfiguration ausgestrahlt hat. In Bezug auf „Wir setzen die Veränderung fort“ ist Stojnew kategorisch:
„Wenn die Politiker von „Wir setzen die Veränderung fort“ denken, dass sie bei vorgezogenen Wahlen an Stimmen gewinnen könnten, sind sie im Irrtum. Es gibt keine Regierung, die nach 1990 mit absoluter Mehrheit regiert hat, mit Ausnahme des Kabinetts von Iwan Kostow (1997-2001). Damals kamen wir aber gerade aus einer riesigen Krise heraus. Egal wie viel „Wir setzen die Veränderung fort“ gewinnt, sie wird in einer Koalition regieren müssen.“
„Es wird Wahlen geben, aber es hat keinen Sinn, sie zu überstürzen“, erklärte seinerseits der Abgeordnete Martin Dimitrow von „Demokratisches Bulgarien“ in einem Interview für den BNR. Er stellte die These auf, dass die Bildung eines Expertenkabinetts notwendig sei.
„Die Regierung muss aus Experten und nicht aus Spitzenpolitikern bestehen. Und sie sollte entweder bis zu den Kommunalwahlen (im Jahr 2023, Anm. des Redakteurs) bestehen - das bedeutet gleichzeitige Durchführung von zwei Wahlen, oder bis Ende kommenden Jahres. Die Vorlage und Abstimmung einer Erklärung mit den Prioritäten dieses möglichen Kabinetts könnte zur Grundlage für die Schaffung seiner notwendigen Mehrheit werden“, fügte Dimitrow hinzu und wies darauf hin:
„Es besteht die reale Gefahr, dass wir in eine Wahl-Spirale geraten und dass das Parlament zunehmend mehr in kleinere Fraktionen aufsplittert, was die Bildung einer Mehrheit zu einer immer schwierigeren Aufgabe macht.“
Die Formation „Es gibt ein solches Volk“ des Showmasters Slawi Trifonow sei zu einem Dialog mit „Demokratisches Bulgarien“ und der „Bulgarischen Sozialistischen Partei“ bereit, da sie eine gute Kommunikation zu beiden Formationen unterhalte, auch wenn sie im Grunde genommen mit ihrem Austritt aus der Regierung des Kyrill Petkow die momentane politische Krise ausgelöst hat.
„Uns ist wichtig, dass der Staat nicht in ein weiteres Chaos gestürzt wird, weil die Menschen keine Wahlen wollen. Deshalb werden wir uns Gedanken machen und ein klares Programm mit konkreten Parametern für eine konkrete Zeit aufstellen. Die Alternative ist Chaos, aber wenn nichts passiert, steuern wir neuen Wahlen zu. Nichts kann uns erschüttern“, meinte Stanislaw Balabanow, Abgeordneter der Formation „Es gibt ein solches Volk“.
Die Ergebnisse möglicher erneuter vorgezogener Parlamentswahlen sind jedoch schwer vorherzusagen.
„Wir können nicht vorhersagen, welche Gedanken die Menschen am Wahltag in dieser sich dynamisch verändernden Situation bewegen werden“, sagte der Politikwissenschaftler Professor Ewgenij Dajnow in einem Interview für den BNR. „Wir wissen nicht, was mit dem Krieg in der Ukraine, der neuen Pandemie-Welle, den Energie- und Warenpreisen passieren wird. Eines steht aber meines Erachtens fest: Je akuter die Probleme sind, die nach möglichen Wahlen im Oktober gelöst werden müssen, desto höher wird die Wahlbeteiligung ausfallen. Der Grund: Die Menschen werden mit ihrer Stimme an einer Entscheidung teilhaben wollen.“
Zusammengestellt: Joan Kolev auf der Grundlage von Interviews des BNR-Programms „Horizont“ und von Radio Plowdiw
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
Fotos: BGNES, Archiv
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