Bulgarien befindet sich momentan in einer “ausgesprochen schwierigen Situation”, denkt Professor Matthias Theodor Vogt, deutscher Kulturhistoriker und Geschäftsführender Direktor des Institutes für kulturelle Infrastruktur Sachsen.
Seit seinem ersten Besuch im Jahr 1988, als er eingeladen wurde, ein Jahr später “Rigoletto” an der Staatsoper in Russe zu inszenieren, hat sich das Land um einiges verändert. “Die Menschen sind so unzufrieden, dass sie gerade zum fünften Mal wählen mussten und immer noch keine stabile Legislative bekommen haben. Das ist deshalb eine Katastrophe, weil ohne stabile Legislative gibt es keine stabile Exekutive,” sagt Matthias Vogt. Seiner Meinung nach ist ein Präsidialkabinett nicht die Lösung.
Das Problem ist aber laut Professor Vogt nicht nur rein politisch, sondern auch demografisch. Viele Menschen haben entschieden, das Land zu verlassen, ein großer Teil davon sind junge Frauen. “Von allen Ländern der Europäischen Union steht Bulgarien bei der Demographie am schlechtesten. Sie haben doppelt so viele Todesfälle pro Jahr wie Geburtenzahlen. Das bedeutet, dass Bulgarien seit 1989 ein Drittel der Bevölkerung verloren hat und die Tendenz ist weiterhin negativ,” sagt er.
Die Vorgeschichte
Professor Matthias Vogt nennt die Situation, in der Bulgarien sich gerade befindet “ein riesengroßes Pech”. Dieses Pech hat aber eine Vorgeschichte, die eigentlich “von außen” importiert wurde. Im Jahr 1989 wurde der Washington-Konsens eingeführt, der eine Reihe von wirtschaftspolitischen Maßnahmen enthält, die südamerikanischen Regierungen zur Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum durchführen sollten. Das sind aber Länder, laut Professor Vogt, die “den Begriff der sozialen Gerechtigkeit überhaupt nicht kennen, weil das sind Ausbeutergesellschaften in den Händen von wenigen Familien, damals wie heute”.
Also der Washington-Konsens wurde ohne Gedanken an soziale und ausgleichende Gerechtigkeit gemacht. “Er ist völlig uneuropäisch”, meint Vogt und fügt hinzu: “Und dieser Washington-Konsens wurde dann nach Warschau, nach Prag, nach Sofia einfach übergestülpt und hat zu dieser grundsätzlichen Verwirrung gehört, was ist eine Aufgabe des Staates, was ist eine Aufgabe der Gesellschaft, was kann von den Einzelnen gemacht werden.”
Vor mehr als dreißig Jahren von außen übergestülpt, das Resultat davon ist heute klar: es ist schon eine Vertrauenssache. “Daran muss man auf der volkswirtschaftlichen Ebene ganz massiv arbeiten, damit man das Vertrauen der Menschen in ihr eigenes Land wieder zurück macht,” sagt der deutsche Kulturhistoriker.
“Niemand wird von außen helfen. Das können nur die Bulgaren selbst”. Aber wie?
Da Bulgarien oft in der Vergangenheit Ideen und Erfahrungen “von außen” importiert hat, stellt Professor Vogt noch eine zur Verfügung: nämlich seine Vorstellung, wie Unterstützung und Investition in die Kultur zu der Entwicklung der Wirtschaft und Gesellschaft beitragen können.
Die Lösung
“Das Wichtigste, was Bulgarien in der Vergangenheit nach vorne und immer wieder nach vorne getragen hat, das ist die Leidenschaft der Menschen: die Leidenschaft einerseits für ihre Mitmenschen und andererseits für die Arbeit, die sie gemacht haben,” davon ist Professor Vogt stark überzeugt.
Er meint, dass das wichtigste Kapital, über das bulgarische Firmen heute verfügen, ist das Leidenschaftskapital, auf Englisch: “passion capital”.
Sein Vorschlag: Genau dieses Kapital der jungen Mitarbeiter in bulgarischen Firmen durch eine engere Zusammenarbeit zwischen Künstler und Unternehmen weiterhin zu unterstützen. Zum Beispiel, erklärt der Kulturhistoriker, den jungen Menschen auffordern, selber einen Plan als Team zu entwickeln und einen Künstler aus den lokalen Kunsthochschulen, Musikhochschulen oder Theaterhochschulen einzuladen, mit dem gemeinsam ein Projekt, ein Event oder einen Workshop für die weiteren Mitarbeiter der Firma zu machen.
“Dann entwickeln wir genau diesen kühlen Geist untereinander und Teamgeist zugunsten der anderen Mitarbeiter,” erklärt Prof. Vogt weiter.
Eine neue Idee, eine andere Perspektive, die “von außen” kommt. Trotzdem brauchen solche Vorschläge starke Investitionen, also sie kosten viel Geld. Es ist noch unklar, ob bulgarische Unternehmen bereit sind, bei solchen Initiativen teilzunehmen und sogar selbst zu organisieren. Professor Vogt ist aber sicher, dass seine Idee machbar ist: “Die Investitionen in Kultur sind nicht notwendigerweise monetär abbildbar. Sehr oft genügen auch kleinere Dinge, um viel zu bewegen. Die Kunst ist ein sehr flüchtiges Ding, kann aber wunderbare Effekte haben,” sagt der Wissenschaftler. Er fügt hinzu: “Wir müssen uns trennen von dem Bild, dass nur große und staatliche Institutionen Kunst produzieren können. Das ist nicht mehr wahr für heute. Die Kunst ist viel flexibler geworden - sind sehr oft Kooperativen, auch gerne spartenübergreifende und internationale Kooperativen, die heute interessante Kunst produzieren. Das kann sehr wohl auch innerhalb von Firmen stattfinden”.
Wichtig zu behalten ist, dass Investitionen ohne Förderung des Betriebsklimas nützеn nur wenig, sagt Matthias Vogt. Wenn wir aber das Betriebsklima positiv fördern, dann “fördern wir auch das Vertrauen der Menschen untereinander und das ist der Grundstock für Weiteres,” meint der Professor.
Zurück zum Vertrauen. „Daran muss man einfach arbeiten, um Vertrauen wieder zu schaffen,” meint Matthias Vogt, “vertrauen aber erstmal der Menschen untereinander und dann auch in das Gemeinwesen, in den Staat”.
Die Zukunft Bulgariens liegt ausschließlich in den Händen der Menschen. Das ist die Grundidee von Professor Vogt, aber “..wenn wir keine Menschen haben, die mit gutem Vorbild vorangehen, wird dieser Prozess nicht gelingen.” Das gute Betriebsklima sollte Hand in Hand mit einem fairen Gehalt gehen. “Ich weiß, was bulgarische Musiker hier verdienen, insbesondere pro Stunde. Da schämt man sich, das zu hören, dass sowas möglich ist,” sagt Professor Vogt und fügt hinzu: “Gleichzeitig weiß ich auch, wie viele hier wieder zurückwollen, wenn sie im Ausland gewesen sind, weil es einfach so ist: Die Familie hier ist Heimat.”
Die demografische Krise ist schon sehr bedeutend, aber viele Bulgaren, die im Ausland studiert und gearbeitet haben, haben sich entschieden, nach Bulgarien zurückzukehren und “gerne einen materiellen Verzicht auf sich zu nehmen, um eben dieser Nähe zum persönlichen zu haben”, wie Matthias Vogt erklärt. Man muss einfach klein anfangen, sagt er und ist fest davon überzeugt, was helfen könnte: “das sind die Mittel der Künste. Es gibt hervorragende Künste hier, eine hervorragende Hilfe.”
Das ganze Gespräch mit Professor Matthias Theodor Vogt finden Sie in der Audiodatei.
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