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Der Wahlkampf zu den Europawahlen in Bulgarien im Schatten einer weiteren vorgezogenen Parlamentswahl

Der Wirtschaftsexperte Ewgeni Kanew für Radio Bulgarien: Die Bulgaren interessieren sich nicht dafür, was die bulgarischen Abgeordneten im Europäischen Parlament tun werden

Foto: EPA/BGNES

Bulgarien wählt am Sonntag, den 9. Juni, das 50. Parlament des Landes. Es sind die sechsten vorgezogenen Parlamentswahlen innerhalb von zweieinhalb Jahren. Dieses Mal fallen sie mit der Wahl des neuen Europäischen Parlaments zusammen, für das Bulgarien 17 Vertreter entsenden wird. 
Die Kampagne für das nationale Parlament hat die Debatte über Europa und das Europäische Parlament völlig in den Schatten gestellt und das in einer Zeit, in der Bulgarien an der Schwelle zur Eurozone steht, die bulgarische Gesellschaft zur Frage der Einführung des Euro gespalten und über einen möglichen Anstieg der Inflation, wenn die nationale Währung aufgegeben wird, besorgt ist.



Die Bekämpfung der Armut ist eines der führenden Themen für die Europäer in der derzeitigen Wahlkampagne für das Europäische Parlament, ergab eine Umfrage von Eurobarometer, die im Zeitraum Februar - März dieses Jahres durchgeführt wurde. Für ein Drittel der Befragten ist dieses Thema von erstrangiger Bedeutung, gefolgt von der Gesundheitsfürsorge (32%), die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Sicherheit und Verteidigung (je 31 Prozent). Das Energiewesen ist nach Ansicht der Wähler auch eine Priorität in der EU-Politik, aber die Debatte in Bulgarien über all diese Themen und die Entscheidungen, die im nächsten Europäischen Parlament verteidigt werden müssen, verläuft träge und engagiert die öffentliche Energie kaum.
Die bevorstehenden Europawahlen werden sich stark von den letzten Wahlen im Jahr 2019 unterscheiden, prognostizierte der politische Analyst Iwan Krastew bei einer Diskussion in Sofia zu den Europawahlen.

Iwan Krastew
„Die Wahlen im Jahr 2019 standen fast vollständig im Schatten des Brexit. Neunzehn Parteien in verschiedenen Ländern der Europäischen Union forderten ein Referendum entweder über die Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union oder über den Euro. Die bevorstehende Europawahl ist unter diesem Gesichtspunkt anders. Viele der Parteien, die damals ein solches Referendum wollten, haben es aufgegeben. Bulgarien bildet eine Ausnahme. In den nachfolgenden fünf Jahren, die weitgehend von der Covid-Krise und der russischen Aggression in der Ukraine geprägt waren, wollten viele der extremen Parteien im linken und im rechten Spektrum plötzlich nicht mehr aus der EU austreten“, unterstreicht Iwan Krastew, für den eines der wichtigsten Merkmale dieser Wahl die ganz besondere Kombination aus Fragmentierung und Polarisierung ist. Es sei aber nicht die alte Polarisierung zwischen denen, die den Austritt aus der EU wollen, und denen, die in der Union bleiben wollen. „Die Polarisierung betrifft andere Themen. Europa hat sich gerade deshalb als viel geeinter erwiesen, weil es fünf große Krisen gleichzeitig erlebt hat (Klima, Inflation, Flüchtlinge, Covid und der Krieg in der Ukraine - Anm. d. Red.), von denen jede einzelne für den einzelnen Menschen von Bedeutung ist“, erklärte Iwan Krastew.
Die Europawahlen sind nicht im Visier der bulgarischen Parteien, erklärt auch die stellvertretende Direktorin des Europäischen Rates für Außenpolitik Wessela Tschernewa.

Wessela Tschernewa
„Diese Wahlen hätten gut vorbereitet werden können, denn sie wurden schon vor vielen Monaten ins Gespräch gebracht. In dem Moment aber, in dem klar wurde, dass sie mit den nationalen Wahlen zusammenfallen würden, haben die politischen Parteien aufgehört, sich für dieses Thema zu interessieren. All ihre Ressourcen wurden auf die nationale Kampagne gelenkt“, sagte Wessela Tschernewa, die den bulgarischen Politikern vorwirft, sich nie mit der europäischen Thematik auseinandergesetzt zu haben. 
„Die Tatsache, dass die Debatte über die Zukunft der EU in der nächsten Legislaturperiode des Europäischen Parlaments durch innenpolitische Themen verdrängt wurde, ist besorgniserregend, aber nicht überraschend“, behauptet der Wirtschaftswissenschaftler Ewgeni Kanew. 

Ewgeni Kanew
„Die Bulgaren interessieren sich nicht, was die bulgarischen Europaabgeordneten im Europäischen Parlament tun werden“, behauptet Ewgeni Kanew in einem Interview für Radio Bulgarien und geht sogar noch weiter.
„Es gibt eine unverhohlene Abneigung gegenüber den Abgeordneten des Europäischen Parlaments, weil sie als Personen wahrgenommen werden, die für ein hohes Gehalt arbeiten und mit den entsprechenden Parteiführungen verbunden sind, ohne eine Rolle im Europäischen Parlament zu spielen. Die europäische Frage steht ziemlich im Hintergrund, denn die Rolle der Europäischen Union und wie sie das Leben der Bulgaren beeinflusst, ist in Bulgarien kein populäres Thema.“
Dennoch ist für Ewgeni Kanew ein Wandel möglich, der zunächst auf politischer Ebene beginnen und auf der Ebene der Medien fortgesetzt werden müsse.
„Das hängt natürlich von den Parteien selbst ab und zweitens von der Führung des Staates, dem Ministerrat, der die Aufgabe hat, der Öffentlichkeit den Sachverhalt zu erklären. Eine vorrangige Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien BNR und BNT muss es sein, der Bevölkerung zu erklären, warum wir in der Europäischen Union sind, was der Unterschied zwischen der Europäischen Union und der Sowjetunion ist, denn das verstehen viele Bulgaren nicht, warum Bulgarien große Vorteile von seiner EU-Mitgliedschaft hat“, unterstreicht Ewgeni Kanew und betont, dass das für das Funktionieren unserer Gesellschaft äußerst wichtig ist. Durch diese Erklärungen werde sehr deutlich werden, warum Bulgarien in der Praxis kein würdiges Mitglied der Europäischen Union sind, weil es keine Rechtsstaatlichkeit gibt. „Doch gerade die Rechtsstaatlichkeit ist der grundlegende Wert der Europäischen Union“, sagte Ewgeni Kanew abschließend. 

Übersetzung: Georgetta Janewa




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