In dieser Woche läuft in Sofia ein Forum, auf dem die Gegenwart und Zukunft Europas breit diskutiert wird. Speziell aus Frankreich angereist sind zwei der bedeutendsten dortigen Intellektuellen – Julia Krastewa und Zwetan Todorow – beide bulgarischer Abstammung. Julia Krastewa, die sich als Sprachwissenschaftlerin, Philosophin, Feministin und Psychoanalytikerin sieht, will u.a. auch die Orte ihrer Jungendjahre aufsuchen und sich mit ehemaligen Mitschülerinnen und Kommilitoninnen treffen. Begleitet wird sie von der Harvard-Professorin Alice Jardine, die eine Biographie der namhaften europäischen Feministin schreibt. „Ich entschloss mich zu diesen Treffen, denn es könnte mein letzter Besuch sein, bevor ich in tiefes Alter verfalle“, sagte die heute 73jährige.
„Die Krise, in der Europa steckt, erfordert von uns, die demokratischen Werte zu überdenken“, sagt weiter Prof. Krastewa. Sie wird in der Sofioter Universität „Hl. Kilment von Ohrid“, in der sie vor rund einem halben Jahrhundert selbst studierte, eine Vorlesung zu diesem Themenkreis auf Bulgarisch halten. In der anschließenden Diskussion wird sie die Fragen allerdings auf Französisch beantworten, weil sie sich in dieser Sprache sicherer fühlt, zumal sie seit fast 50 Jahren in Frankreich lebt und arbeitet. „Mein Gehirn ist ähnlich dem von Amphibien – zur Hälfte bulgarisch und zur Hälfte französisch“, scherzt Julia Krastewa, die auch auf unsere Fragen auf Französisch antwortete.
Welche europäischen Themen bewegen Julia Krastewa derzeit?
„Ich bin sehr empfindsam, was die derzeitige Krise in Europa anbelangt, denn sie ist mehr als eine Krise – sie stellt in uns die demokratischen Werte in Frage, die überdacht werden müssen“, sagt Julia Krastewa. „Wir Intellektuelle können, wenn nicht mit einer endgültigen, so doch zumindest mit einer vorübergehenden und pragmatischen Lösung helfen. Eines der Grundthemen meiner Vorlesung wird sich um die Rebellion drehen. Können wir heute rebellieren, was bedeutet es und können wir damit über jene Formen des Enthusiasmus hinausgehen, die von den wahren Werten inspiriert sind – jene Werte, die zusammengebrochen sind, als sie totalitär wurden. Meiner Ansicht nach ist die beste Rebellion, wenn man die eigenen Werte ständig in Frage stellt, wenn sich unsere Ideale stets erneuern, wenn man sich der Einzigartigkeit eines jeden Individuums mit seinen schöpferischen und persönlichen Möglichkeiten besinnt und wenn man den Humanismus und von da auch die Möglichkeiten der Humanwissenschaften, einschließlich der Psychoanalyse überdenkt. Am Ende meiner Vorlesung werde ich auch die brennende Frage über die „neuen Ausländer“ anschneiden, wie ich die Menschen nenne, die sich vom demokratischen System und der Globalisierung verstoßen fühlen, vor allem die Jugendlichen aus den Randvierteln, die zu Dschihadisten werden.“
Das Thema „Rebellion“ wird beim bulgarischen Publikum sicher Anklang finden, weil wir hier „Winter“, wie auch „Sommer“ des Missvergnügens erlebten. Vergangenes Jahr waren die Straßen stets voller Protestierender, ohne dass jedoch etwas erreicht wurde.
„Zum Unglück, oder zum Glück habe ich mich vom bulgarischen Alltag gelöst – mein Herz beginnt aber immer höher zu schlagen, wenn Bulgarien zur Sprache kommt“, sagt weiter Julia Krastewa. „Ich weiß über diese Ereignisse, kenne sie jedoch nicht im Detail. Die Kultur Osteuropas liegt mir am Herzen. Es ist eine Kultur der Orthodoxie, aber auch des Kommunismus – eine aufrührerische Kultur. Sie kann aber nicht mit dem Wort „Revolte“ beschrieben werden, so wie es in Westeuropa verstanden wird – Bruch mit der Vergangenheit und Eröffnung einer neuen Perspektive. Bei der Aufruhr wird die Grenze des Erträglichen erreicht, mit allen Regeln gebrochen; der Wunsch nach Abwerfen der Vergangenheit kommt auf, allerdings wird kein neues Projekt vorgeschlagen. Wie können nun die Dinge gelenkt werden, wenn doch die Leitung als solche abgelehnt wird? Es geht hier nicht um Kompromisse, sondern um eine neue Herangehensweise und das macht die Sache schwierig. Ich habe das Gefühl, dass wenn sich die Menschen in Bulgarien erheben, eine Seite gewendet, aber keine neue aufgeschlagen wird.“
In Bezug auf Europa hat Julia Krastewa offensichtlich gleichgelagerte Ansichten wie Umberto Eco. Er meint, dass der europäischen Identität und Kultur die Fähigkeit zugrunde liegt, über sich selbst zu zweifeln.
„Ich bin mit Umberto Eco bekannt und wir liegen tatsächlich auf einer Wellenlänge“, sagt Julia Krastewa. „Ich kämpfe jedoch um die Wahrung des Stolzes Europas, insbesondere heute, wenn die Dinge nicht gut stehen. Warum bin ich als Europäerin stolz? Weil ich denke, dass wir die einzige Zivilisation in der Welt sind und ich achte genau darauf, was ich für Worte wähle, deren Identität kein Kult, sondern ein Überdenken ist. Das kommt von den altgriechischen Denkern, den Traditionen des Judaismus, des Christentums, deren Erbe die hellsten europäischen Geister sind. Wir haben auf diese Kultur des „Infragestellens“ einen Akzent gesetzt, wobei wir manchmal ihre Wurzeln vergessen. Heute müssen wir uns den religiösen Traditionen zuwenden und sie überdenken, ohne sie natürlich zu verteufeln oder zu negieren. Ich denke, dass in dieser Beziehung Europa der Zeit voraus ist. Wir liegen vor den anderen, die sich keine Fragen stellen und sich so entwaffnet erweisen und zu Extremisten werden. Sie brauchen uns nicht. Ich unterhalte gute Beziehungen zur Universität in Schanghai, wohin ich oft reise. Vor einigen Jahren sagte mir ihr Rektor, dass er ein Institut zur Erforschung des europäischen Geistes einrichten will. Ich fragte ihn, warum? Er antwortete: „Unsere Jugendlichen werden mit persönlichen und gesellschaftlichen Konflikten konfrontiert. Sie wissen nicht, wie sie sich vor ihnen schützen können und wie sie mit den anderen umgehen sollen. Ihr in Europa vermögt über sich selbst zu zweifeln und gleichzeitig zusammen zu leben.“ Mittlerweile wurde in Schanghai ein solches Institut für Europaforschungen eröffnet und ich wurde zu seiner Ehrenvorsitzenden ernannt. Die Chinesen sind sich über die potentielle Fruchtbarkeit des europäischen Geistes voll im Klaren“, sagte uns abschließend die französische Intellektuelle bulgarischer Abstammung Julia Krastewa.
Übersetzung und Redaktion: Wladimir Wladimirow
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