Sendung auf Deutsch
Textgröße
Bulgarischer Nationaler Rundfunk © 2024 Alle Rechte vorbehalten

1996: Die Ermordung von Andrej Lukanow

Foto: Archiv

Der 2. Oktober 1996 wird in unserer jüngsten Geschichte mit der Ermordung eines ehemaligen bulgarischen Ministerpräsidenten – Andrej Lukanow – in Erinnerung bleiben. Er war leider bei weitem nicht der erste. Vor ihm wurden noch sechs andere Ministerpräsidenten – fünf ehemalige und ein amtierender – vom gleichen Schicksal ereilt.

Schon im Juli 1885, nur rund 15 Jahre nach der Befreiung von der türkischen Fremdherrschaft, wurde der Freiheitskämpfer und Ex-Premierminister Stefan Stambolow von makedonischen Nationalisten nach einer Verschwörung brutal niedergesäbelt und verstarb Tage später an den schweren Verletzungen. Im Juni 1923 wurde der Ministerpräsident der Agrarpartei Alexander Stambolijski mit einem Militärputsch gestürzt, gefoltert, ermordet und enthauptet. Im Februar 1945 wurden die ehemaligen Ministerpräsidenten aus den Vorkriegs- und Kriegsjahren Bogdan Filow, Dobri Boschilow und Iwan Bagrjanow nach rein formalen Prozessen, bei denen die Urteile schon vorher feststanden, vom so genannten Volksgericht zum Tode verurteilt und erschossen. Ein weiterer Ex-Premier – Alexander Zankow – wurde in Abwesenheit ebenfalls zum Tode verurteilt und entging diesem Schicksal im Exil im Argentinien. Nikola Mushanow (Ministerpräsident von drei Regierungen zwischen 1931 und 1934) kam beim Prozess vor dem "Volksgericht" zwar nur mit einem Jahr Gefängnis davon, wurde jedoch schon wenige Jahre später, im Juni 1951, weil er den Versuch gewagt hatte, seine Demokratische Partei wiederzubeleben, von der bulgarischen Staatssicherheit festgenommen und starb "unter ungeklärten Umständen".

Wer war aber Andrej Karlowitsch Lukanow? Er ist 1938 in Moskau in der Familie des bulgarischen kommunistischen Funktionärs, Spanien-Kämpfers und Mitstreiters von Georgi Dimitrow in der Kommunistischen Internationale Karlo Lukanow geboren. Andrej Lukanow gehörte zur kleinen Gruppe von Leuten an der KP-Spitze, die am 10. November 1989 den Diktator Todor Schiwkow aus der Führung der Kommunistischen Partei Bulgariens entfernten. Zuvor besetzte er jahrelang Führungspositionen im Außenhandel und bei Devisenoperationen der kommunistischen Regierung – in etwa mit denen des DDR-Wirtschaftsfunktionärs Alexander Schalck-Golodkowski vergleichbar.

Seine Rolle zu Beginn der Wende in Bulgarien war außerordentlich groß. Für die Russen wiederum galt er bis zum Ende seines Lebens "der Mann Moskaus in Bulgarien".

Nach dem Partei-Plenum am 10. November 1989 leitete Lukanow den Untersuchungsausschuss für die "Deformationen", wie die Verbrechen, die Tausenden Fälle von Machtmissbrauch und Unterschlagung und die Repressalien gegen Andersdenkende euphemistisch genannt wurden. Dadurch erlangte er noch größeren Einfluss und Machtpositionen in der Partei und im Staat. Er war Ministerpräsident zweier Regierungen der nunmehr Sozialistischen Partei im Jahr 1990. Während seiner ersten Amtszeit erklärte er offiziell ein Moratorium auf die Rückzahlung der Auslandsschulden Bulgariens gegenüber westlichen Banken, was praktisch einen Staatsbankrott darstellte. Mit seiner Amtszeit wird auch die Verteilung der sog. "Roten Geldköfferchen" verbunden, mit deren Hilfe Leute aus dem Umfeld der BSP über Nacht zu Millionären wurden und die Partei ihre wirtschaftliche Macht ausbaute und festigte.

Am 7. Juli 1992 wurde Lukanow festgenommen und gegen ihn wurde eben wegen der geheimen Gelder der KP ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, das aber eingestellt wurde, ohne dass es zu einer Anklage kam. Er wurde am 30. Dezember desselben Jahres freigelassen. Drei Jahre später übernahm Lukanow die Leitung der bulgarisch-russischen Aktiengesellschaft TopEnergy, die eine Vermittlerrolle bei den Lieferungen von russischem Erdgas nach Bulgarien spielte.

Was geschah nun am 2. Oktober 1996?

Lukanow hatte einige Verabredungen in TopEnergy und war schon spät dran. Deshalb bat er seinen Fahrer, ihn mit dem Dienstwagen hinzubringen, obwohl das Büro der Firma sich gar nicht weit von seiner Wohnung befand. Die einzige Zeugin seiner Ermordung wurde die Putzfrau in der kleinen Privatschule, die sich im ersten Stock des Gebäudes befand, wo Lukanow lebte. Sie sah einen Mann, der wie ein Obdachloser aussah und der ihr und auch Nachbarn von Lukanow schon in den vergangenen Tagen vor dem Gebäude aufgefallen war. Wie gewohnt verließ Lukanow das Gebäude und ging zum Auto. Er stieg ein, doch nach Aussage seines Fahrers sagte er ihm, er habe seine Schlüssel vergessen, stieg aus und ging zur Haustür zurück. Sekunden später hörte man Schüsse, Lukanow fiel zu Boden und der Mann, der wie ein Obdachloser aussah, rannte am Auto vorbei und verschwand.

Im Tonarchiv des Bulgarischen Nationalen Rundfunk ist Rede des damaligen Parlamentspräsidenten Blagowest Sendow bei der Beisetzung von Andrej Lukanow erhalten:

"Liebe trauernde Familienangehörige und Freunde des Verblichenen, meine Damen und Herren, wir nehmen Abschied von einem bemerkenswerten Menschen, Politiker und Staatsmann Bulgariens. Wir nehmen Abschied von Andrej Lukanow. Die Volksversammlung ist heute in Trauer. Hunderte Freunde und Menschen in der gesamten zivilisierten Welt, die den Verstorbenen gekannt und geachtet haben, trauern gemeinsam mit uns um ihn und verneigen sich vor seinem Namen, seiner Arbeit und seinem Gedächtnis", sagte Blagowest Sendow.

Der Parlamentsabgeordnete von der Union der Demokratischen Kräfte und ehemaliger Vorsitzender der Demokratischen Partei Stefan Sawow kommentierte die Nachricht von der Ermordung von Andrei Lukanow folgendermaßen:

"Wir sind keinesfalls der Meinung, dass der Mord an Andrej Lukanow – so schwerwiegend und ernst er auch sein mag, ein Grund für die Erklärung eine Ausnahmezustandes, für außerordentliche Maßnahmen, für eine Verschiebung des Termins der Präsidentschaftswahlen oder ähnlichen ist. Er zeigt, dass in Bulgarien auch weiterhin und selbst auf höchster Ebene die Kriminalität wütet und die Regierung von Jean Widenow nicht in der Lage ist, dieser Kriminalität Einhalt zu gebieten, selbst wenn es sich um Leute aus der unmittelbaren Umgebung der Fraktion der Demokratischen Linken handelt", so Stefan Sawow.

Eine Version für die Motive für den Mord ist, dass Lukanow für die Gazprom sich von einer Vertrauensperson an der Spitze von TopEnergy zu einem unbequemen Partner entwickelte und daher beseitigt wurde. Der Grund dafür ist, dass andere Privatunternehmen aus dem Umkreis der BSP wie zum Beispiel Multigroup, nicht nur im lukrativen Geschäft mit russischem Erdgas mitmischen, sondern auch Hand auf das Gaspipelinenetz in Bulgarien legen wollten, das zu 100 Prozent staatlich ist.

Eine andere Version ist mit dem Konflikt zwischen Lukanow und dem der Widenow-Regierung und der BSP-Spitze außerordentlich nahe stehenden Wirtschaftskreis "Orion" verbunden. An seiner Spitze stand Rumen Spassow, der Sohn des einflussreichen ehemaligen stellvertretenden Innenministers aus der Zeit von Todor Schiwkow – Mirtscho Spassow. Die Leute von "Orion" gewannen in kürzester Zeit große wirtschaftliche Macht und politischen Einfluss durch ihre Parteiverbindungen und der von ihnen mit dem Geld des russischen Oligarchen Michael Cherney gegründeten Bulgarischen Agrar-Industriebank. Aktionär der Bank der "Orion"-Gruppe war auch der Besitzer des Bauunternehmens Colonel Angel Wassilew, der im Jahr 1999 wegen der Ermordung von Andrej Lukanow mitangeklagt wurde. Er wurde am 4. Juni 1999 in Prag festgenommen und nach Bulgarien gebracht. Zu den Angeklagten gehörten auch sein Fahrer Juri Lenew und Georgi Georgiew und zwei Ukrainer – Alexander Rusov und Alexej Kichatov. Am 28. November 2003 wurden die Angeklagten zu lebenslänglicher Gefängnishaft ohne Bewährung verurteilt. Sie legten Berufung gegen das Urteil ein. Dreieinhalb Jahre später – am 15. März 2007, wurden sie allesamt freigesprochen. Da er während des Ermittlungsverfahrens gefoltert wurde, erhob Juri Lenew Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Er gewann den Prozess und Bulgarien wurde verurteilt, ihm 27.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen.

Ob nun politisch oder wirtschaftlich motiviert oder vielleicht auch beides – der Anschlag auf Andrej Lukanow ist bis heute einer der aufsehenerregendsten Auftragsmorde in Bulgarien und ein Zeugnis für die kriminellen Methoden, die beim Übergang zur Marktwirtschaft in unserem Land und bei der Umwandlung des staatlichen und öffentlichen Eigentums in Privateigentum angewendet wurden.

Nach dem Mord an Lukanow vertiefte sich die Krise im Land und die Widenow-Regierung war nicht in der Lage, damit fertig zu werden. Anfang 1997 wurde das Land von Streiks blockiert, die Inflation schoss in die Höhe und es kam zu einem Mangel an Nahrungsmitteln. Das war einer der Gründe dafür, am 10. Januar 1997 eine große Kundgebung zu organisieren, bei der der Rücktritt des Ministerpräsidenten und der Regierung gefordert wurde. Auf die Voraussetzungen, die Vorbereitung und die Durchführung der Streiks und Kundgebungen, die als "Januar-Ereignisse" in die Geschichte unseres Landes eingegangen sind, werden wir im zweiten Teil des Beitrags "1995-1997 – die Winter unserer Unzufriedenheit" eingehen.

Deutsche Fassung: Petar Georgiew



Последвайте ни и в Google News Showcase, за да научите най-важното от деня!

mehr aus dieser Rubrik…

2015: Der BNR – 80 Jahre später

Am 25. Januar 1935 hat Zar Boris III. per Erlass die Verstaatlichung des Rundfunks in Bulgarien angeordnet. Das gilt auch als die Geburtsstunde von Radio Sofia, später umbenannt in Bulgarischer Nationaler Rundfunk – BNR. Zum ersten Intendanten des..

veröffentlicht am 22.12.15 um 15:11

2014: Nikola Gjusselew – der Maler unter den Sängern

„ Ich mag das Wort „Legende“ nicht – ich bin ein real existierender Mensch, ein Künstler. Wen ich aber dennoch etwas in dieser Richtung sagen darf: man hat mich als weltweit besten Kantilenen-Bass bezeichnet. “ Das sagte in einem seiner..

veröffentlicht am 19.12.15 um 10:15

2013: Die Regierung in der Isolation

2013 wird wohl als das Jahr der Proteste in die bulgarische Geschichte eingehen. Diese zwangen im Februar die GERB-Regierung unter Bojko Borisow zum Rücktritt. Die daraufhin am 12. Mai gewählte Zweiparteienregierung aus Sozialisten (BSP) und..

veröffentlicht am 12.12.15 um 09:25