Das ist die Geschichte vieler Bulgaren, die nach der Wende 1989 ausgewandert sind, deren Herzen aber hier geblieben sind. „Morgen beginnt heute“ lautete eine der emblematischen Losungen jener Zeit. Trotz der vielen Stolpersteine auf dem Weg zur Demokratie konnte sich Newena Mitropolitska kein Leben außerhalb Bulgariens denken. Bis 1997, als unsere Landleute wiederholt von einem verheerenden Orkan heimgesucht wurden – diesmal in der Gestalt der Hyperinflation.
„Ich hatte gehofft, dass sich alles zum Guten wendet und wir den richtigen Weg eingeschlagen haben, als plötzlich alles in sich zusammenfiel. Da meinten wir: „Es macht keinen Sinn mehr“, erinnert sich Newena Mitropolitska. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren vier Kindern im kanadischen Québec. In Bulgarien hätte sie spätestens beim dritten Kind Halt gemacht, lächelt sie. Auf unsere Frage, worin sich die bulgarische und die kanadische Familienpolitik unterscheiden, meinte sie:
„In Québec ist das Kindergeld sehr großzügig und alle – nicht nur bedürftige Familien – erhalten eine reale Unterstützung durch den Staat“, sagt Newena Mitropolitska. „In ärmeren Regionen bekommen die Familien mehr Geld, damit sie ihre Kinder zur Schule schicken können. Dort können die Kids ein Jahr früher in die Schule kommen, die im Unterschied zum Kindergarten kostenlos ist. Das ist eine gute Variante für Eltern, die ihre Kinder im Vorschulalter nicht entsprechend selbst auf die Schule vorbereiten können. Es hat sich herausgestellt, dass das Wohlergehen eines Kindes nicht so sehr vom materiellen Wohlstand, sondern vom Intellekt seiner Eltern abhängt. Egal wieviel Geld man einer armen Familie auch zukommen lässt, kann man nicht ausgleichen, dass sich die Eltern nicht mit ihren Kindern beschäftigen. In Kanada versucht man, das so gut es geht wieder wett zu machen“, erzählt Newena Mitropolitska
Heute teilt sie ihr Leben zwischen Bulgarien und Kanada auf. „Ich mag es, zwischen diesen beiden ganz unterschiedlichen Welten zu pendeln und gleichzeitig an zwei Orten zu leben. Wenn ich in dem einen Land weile, sind meine Gedanken im anderen. Jedes Jahr komme ich nach Bulgarien und weiß über das Aktuellste in Politik und Kultur bestens bescheid“, sagt Newena Mitropolitska.
In Bulgarien hat sie russische Philologie studiert, hat in Kanada aber ein Studium in Bibliothekswissenschaft absolviert. Nun arbeitet sie sonntags in der Bibliothek in der bulgarischen orthodoxen Kirche „Hl. Iwan Rilski“ in Montreal. Ihre Liebe zu den Büchern rührt aber von früher her. Deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, dass sie zu den Mitbegründern der Bibliothek gehört, deren Bücherbestand durch Schenkungen der Bulgaren gespeist wird.
Außerdem ist Newena Mitropolitska selbst schriftstellerisch aktiv. In Kanada hat sie das Buch „Anna und das Gebirge“ geschrieben. Die Handlung beginnt im Frühjahr 1989 und erfasst 19 Jahre nach der Wende in Bulgarien. Das Buch beleuchtet die Überlebensstrategien der Bulgaren, doch dienen die darin geschilderten Ereignisse lediglich aus Hintergrund einer psychologischen Auslegung dieser Zeit. Gibt es etwas aus dieser Überganszeit, das unausgesprochen geblieben ist und nicht zu Ende gelernt wurde, wollten wir von Newena Mitropolitska wissen.
„Die Zeit nach der Wende lässt sich nur schwer verallgemeinern. Man sollte sich unterschiedliche Sichten dazu anhören. In meinem Buch gehe auch ich von meiner persönlichen Situation aus. Die Wende hat aber Tausende Gesichter. Es müssen mehr davon gezeigt werden“, meint die Autorin.
Warum weigern sich die Bulgaren aber oft, diese Tausenden Gesichter zu sehen? Warum lehnen sie die Möglichkeiten zu Debatten ab und halten stur an einem einzigen Standpunkt fest?
„Als ich nach Kanada kam, meinte ich selbst auch, dass es nur eine richtige Art gibt, wie alles zu erfolgen hat und alles andere falsch sei“, gesteht Newena Mitropolitska. „Wir sind einfach so erzogen worden. Wir mussten umdenken. Als ich ausgewandert bin habe ich erkannt, dass es viele Arten gibt, wie man sein Leben gestalten und nützlich sein kann. Wir dürfen uns nicht nur an eine einzige Variante klammern, die wir gewohnt sind.“
In Québec leben die 8.500 Bulgaren einträchtig miteinander und helfen sich gegenseitig. Oft gastieren dort bulgarische Theatertruppen, Rock- und Popbands. Die bulgarische Kirche, die wir bereits erwähnt haben, ist in einem großen Gebäude untergebracht, dass unsere Landsleute mit gemeinsamen Mitteln erstanden haben. Sie ist ein beliebter Treffpunkt, wo sie sich gern zusammenfinden.
„Im untersten Geschoss befinden sich die Bibliothek, die bulgarische Sonntagsschule und Räume, wo man bulgarische Volkstänze erlernen kann. Die Leute kommen Sonntags zur Messe und steigen danach nach unten, wo oft einzelne Familien kostenloses Essen und Trinken spendieren. Alle, die mögen, können für die Speisen und Getränke Geld stiften, das dann an die Kirche oder bedürftige Familien geht“, sagte abschließend Newena Mitropolitska
Übersetzung: Rossiza Radulowa
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